Authentizität - wie viel davon brauchen Sie

 wo und wann?

Wir alle lieben das Wort „authentisch“, richtig? Nicht weil es einen besonderen Klang hat, sondern weil wir es automatisch mit etwas Echtem, Glaubwürdigem und Aufrichtigem verbinden, das einen guten Vibe und Anziehungskraft auf uns ausübt. Authentizität ist im Kern die Treue zu sich selbst und zu anderen; ein Zustand, in dem unsere Handlungen, Überzeugungen und Bestrebungen mit unseren Grundwerten und unserer Identität übereinstimmen. Im Zentrum der Authentizität steht das Selbstbewusstsein – ein genaues Verständnis unserer Stärken, Leidenschaften, Ambitionen und idealerweise auch unserer Unzulänglichkeiten und unserer Verletzlichkeit.


Schauen wir uns die Art und Weise an, wie wir unsere authentische Persönlichkeit Tag für Tag leben, in unserer Karriere oder in Führungsmomenten. Dazu sollten wir zunächst einige schwierige Fragen stellen:


Ist völlige Authentizität möglich und immer ideal oder hat sie ihre Tücken? Ist es überhaupt notwendig oder produktiv, in jedem Moment zu 100 % wahrheitsgetreu und authentisch zu sein? Ist Authentizität vielleicht einfach etwas, das wir in modernen und wohlhabenden (westlichen) Gesellschaften gerne betonen? Bedeutet Authentizität, dass wir niemals lügen, täuschen oder etwas verheimlichen? Unwahrscheinlich! Laut zahlreichen nicht schlüssigen Studien, die über Jahrzehnte hinweg durchgeführt wurden, lügen die meisten Menschen regelmäßig, im Durchschnitt jedoch nur ein paar Mal am Tag. Nur wenige Menschen lügen oft.


Wir sind größtenteils Produkte unseres kulturellen Erbes, unserer Ausbildung und unseres beruflichen Umfelds, welches uns lehrt, mit den Regeln von Verkaufstechniken, Hierarchie und Wettbewerb umzugehen. Wie könnten wir ohne diese Bereiche von komplexen Richtlinien jemals wissen, welcher Teil von uns wo und wann sichtbar sein und welcher besser versteckt bleiben sollte; welches Verhalten hilfreich und welches schädlich sein könnte? Die Gesellschaft schreibt uns oft enge Definitionen von Erfolg und akzeptablem Verhalten vor, indem sie uns unter Druck setzt, vorgegebenen Normen und Erwartungen zu entsprechen, und so unsere Bestrebungen nach Authentizität auf die Probe stellt. Wie äussert sich das z.B. bei der Wahl unseres Berufsbildes?


Die Wahl eines beruflichen Weges, der unserem authentischen Selbst entspricht, ist nicht nur eine pragmatische Entscheidung, sondern eine tiefschürfende Reise zu Selbstfindung und Erfüllung. Aber wenn ich mich umschaue, fällt mir auf, dass viele kompetente Menschen einen beruflichen Weg einschlagen, der nicht ihrer Persönlichkeit, ihren Werten und Wünschen entspricht. Druck von außen, ein geringes Selbstwertgefühl oder der Wunsch, einen bestimmten Standard aufrechtzuerhalten, mögen einige Gründe dafür sein, aber wahrscheinlich gibt es noch mehr. Dann stellen sich folgende Fragen:


Wie viel Authentizität bleibt übrig, wenn ich meine Zeit damit verbringe, Dinge zu tun, die mich nicht inspirieren und nicht meinen Talenten und Fähigkeiten entsprechen? Wie kann ich mein Leben aktiv gestalten und das Leben anderer positiv beeinflussen, wenn das, was ich tue, mir nicht erlaubt, ich selbst zu sein, sondern es nur dem Selbstzweck dient? Welchen Preis bin ich bereit, für den Verzicht auf meine Authentizität zu zahlen? Diese Frage ist auch für alle anderen Aspekte unseres Lebens von entscheidender Bedeutung.


In bestimmten Situationen greifen wir womöglich auf Lügen als eine Form der Selbsterhaltung zurück, um uns vor Vorurteil, Schaden oder unangemessener Überprüfung zu schützen, z. B. jemand könnte in einer feindseligen Umgebung seine Überzeugungen oder Vorlieben verheimlichen, um Konflikten oder Verfolgung zu entgehen, während jemand anderes lügt, um Unwissen, Unsicherheit oder Scham zu verbergen. Obschon das Lügen dem Ideal der Authentizität widerspricht, kann es als strategischer Schachzug angesehen werden, um die eigene echte Identität vor externen Bedrohungen zu schützen.


Darüber hinaus kann der Begriff der Authentizität abhängig sein von Interpretation und Kontext. Was in einer Situation oder Kultur authentisch sein mag, könnte in einer anderen als unhöflich oder unverschämt gelten. Gesellschaftliche Normen, kulturelle Erwartungen und persönliche Werte spielen alle eine Rolle bei der Gestaltung dieser Wahrnehmungen. In manchen Fällen wird Lügen als Mittel zur Anpassung an soziale Normen oder zur Aufrechterhaltung des Gruppenzusammenhalts rationalisiert. Eine Person erfindet möglicherweise eine Geschichte, um sich an Gleichaltrige anzupassen, die Harmonie innerhalb der Familie aufrechtzuerhalten oder etwas Peinliches zu verbergen. Im Rahmen spezifischer gesellschaftlicher Dynamiken könnte dies als authentisch wahrgenommen werden.


Darüber hinaus verschwimmen in zwischenmenschlichen Beziehungen oft die Grenzen zwischen Authentizität und Lügen, und wir müssen ein behutsames Gleichgewicht zwischen Ehrlichkeit und Diplomatie finden. Notlügen, Unterlassungen und Ausschmückungen sind in alltäglichen Interaktionen weit verbreitet und werden oft eingesetzt, um die Gefühle anderer zu schonen oder Beziehungen zu pflegen und den guten Willen aufrechtzuerhalten. Auch wenn diese Verhaltensweisen von strikter Ehrlichkeit und Transparenz abweichen, können sie als pragmatisch, strategisch und zielorientiert wahrgenommen werden und die Authentizität aus einer bestimmten Sichtweise neu definieren. Man könnte sogar argumentieren, dass wir uns alle von Zeit zu Zeit in einer solchen Situation befinden. Ich würde gerne Ihre Geschichte oder Meinung dazu hören.


Was meinen wir genau und worauf achten wir, wenn wir beurteilen, wie authentisch eine Person wirkt? Auch wenn es schwierig ist in Worte zu fassen, entsteht in uns ein allgemeiner Eindruck, wie aufrichtig der Überbringer einer Botschaft ist. Unser gesunder Menschenverstand und unser Bauchgefühl sprechen zu uns. Mit anderen Worten: Eine wahrheitsgetreue Botschaft sollte mit einem passenden Auftreten und Verhalten einhergehen. (Ob die Person jedoch trotz einer tadellosen visuellen und stimmlichen Kommunikation über den Inhalt gelogen hat, stellt sich oft erst im Nachhinein heraus.)


Beispiel 1: Wenn unser Chef vor sein Management und seine Mitarbeiter tritt, um eine bevorstehende Unternehmensumstrukturierung anzukündigen, dann haben wir im Publikum bestimmte Erwartungen in Bezug auf die Transparenz seiner Botschaft, eine respektvolle Haltung, Augenkontakt und Empathie für diejenigen Mitarbeiter, denen möglicherweise eine Kündigung bevorsteht. Sobald etwas an diesem Bild nicht unseren Erwartungen entspricht, spüren wir das sofort. Unser Bauchgefühl sagt uns, dass mit der Authentizität etwas nicht stimmt.


Beispiel 2: Der Mensch möchte daran glauben, dass der Überbringer einer Botschaft aufrichtig ist. Nehmen wir an, eine erfolgreiche Influencerin lobt in den sozialen Medien einen gesunden Lebensstil, bearbeitet aber ihr echtes Erscheinungsbild mit Photoshop und wendet Schönheitsfilter an. Halten wir sie immer noch für authentisch – schließlich hat sie viele Anhänger – oder eher für eine Lügnerin? Wie viele von uns denken, dass ihre Botschaft genauso glaubwürdig und sie genauso erfolgreich wäre ohne Photoshop und Schönheitsfilter? Würden wir ihrer Botschaft immer noch glauben und ihr Produkt kaufen? Ist Authentizität in den sozialen Medien möglich und wünschenswert oder kontraproduktiv oder etwa gar kein Thema mehr?


Beispiel 3: Sie bereiten sich auf das letzte in einer Reihe von Bewerbungsgesprächen innerhalb Ihres Wunschunternehmens vor. Die neue Stelle wäre wegweisend für Ihre Karriere; daher möchten Sie bei der Geschäftsleitung den bestmöglichen Eindruck hinterlassen. Obgleich Authentizität von entscheidender Bedeutung ist, sind Sie sich auch der Anforderungen der Position bewusst. Wie sehr übertreiben Sie bei Ihrer Erfahrung, Ihrem Know-how, Ihrem Commitment und Ihren Führungsqualitäten? Setzen Sie auf Hard Sell, um Ihren Wettbewerbsvorteil zu zeigen, oder entscheiden Sie, dass ein sanfter, demütiger Ansatz einen ehrlicheren Eindruck hinterlässt?


Fazit: Authentisch sein und lügen liegen an entgegengesetzten Enden der moralischen Skala. Authentizität beruht auf Integrität, während Lügen auf absichtliche Täuschung und Manipulation abzielen. Authentisch sein ist angeboren, mühelos und besteht ohne Hintergedanken. Lügen, Täuschen und Verheimlichen ist eine bewusste Entscheidung mit einer verborgenen Absicht. Auch wenn die Absicht dahinter nicht böse ist, kann es mit der Zeit dennoch zu Vertrauensverlust führen. Die Komplexität der menschlichen Natur und der sozialen Dynamik lässt manchmal die Grenzen zwischen beiden verschwimmen. Authentisch zu sein, erfordert Mut, schützt jedoch langfristig unsere Würde. Die Aufrechterhaltung einer Täuschung mag zwar einen Zweck erfüllen, aber letztendlich zehrt sie an unserer mentalen Energie.

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