Führung und Selbstführung: was ist was?

Wenn wir über Führung sprechen, stellen wir uns meist jemanden vor, der selbstbewusst und überzeugend vorn im Raum steht und andere zu einem gemeinsamen Ziel hinführt. Was wir jedoch oft übersehen, ist die stille, innere Vorarbeit, die dies überhaupt ermöglicht: Selbstführung! Lange bevor eine Führungskraft ein Team inspiriert, muss sie lernen, sich selbst zu inspirieren. Lange bevor sie Vertrauen gewinnt, muss sie sich selbst vertrauen. Dieser feine Unterschied unterscheidet wahre Führungspersönlichkeiten von denen, die lediglich einen Titel oder eine Position innehaben.
Ich war schon immer neugierig, wo Führung endet und Selbstführung beginnt und wie das Beherrschen von beidem das Geheimnis eines authentischen, nachhaltigen Einflusses in allen Lebensbereichen ist.
Bei authentischer Selbstführung geht es darum, unsere inneren Werte mit unserem Handeln in Einklang zu bringen, um echt und wirksam zu führen. Führung und Selbstführung sind wie zwei Seiten derselben Medaille: Die eine ist nach innen, die andere nach außen gerichtet. Während Führung darauf abzielt, andere zu beeinflussen, zu leiten und ihnen zu ermöglichen, eine gemeinsame Vision zu verwirklichen, geht es bei Selbstführung darum, die eigene Denkweise, das eigene Handeln und die eigene Entwicklung so zu steuern, dass dies effektiv gelingt.
Der Hauptunterschied: wie und was beeinflussen wir?
• Selbstführung ist selbstgesteuerte Einflussnahme: Wir führen uns selbst zu Klarheit, Disziplin, Mut und Ausrichtung.
• Führung ist die Erweiterung desselben Einflusses: So inspirieren und mobilisieren wir andere.
Die Schwelle zwischen beiden liegt genau an diesem Punkt der Erweiterung: Wenn unsere interne Steuerung sichtbar und ansteckend wird und sich von rein persönlicher Disziplin in eine zwischenmenschliche Kraft verwandelt, die einen nachhaltigen Einfluss auf andere hat.
Warum sprechen wir selten von „einer guten Selbstführung“?
Dies ist im beruflichen Kontext vielerorts ein kultureller blinder Fleck. Wir loben „großartige Führungskräfte“, weil ihr Einfluss sichtbar ist: Teams gedeihen, Visionen werden verwirklicht, die Leistung verbessert sich und Wachstum findet statt. Selbstführung hingegen ist privat und meist unsichtbar. Man geht davon aus, dass jeder, der andere führen möchte, bereits die Kunst der guten Selbstführung beherrscht. Doch die Realität zeigt, dass dies oft nicht der Fall ist, insbesondere wenn Selbstüberschätzung und mangelnde Selbstreflexion im Spiel sind.
Tatsächlich ist mangelnde Selbstführung das Zeichen einer unsicheren, narzisstischen oder chaotischen Persönlichkeit und eine der verborgenen Ursachen für das, was wir als gescheiterte Führung empfinden? Im Wesentlichen entstehen dadurch folgende drei Situationen:
• Inkonsistentes Verhalten untergräbt das Vertrauen.
• Unkontrolliertes Ego führt zu Machtkämpfen.
• Mangelnde Selbstdisziplin erzeugt Chaos.
Da Selbstführung ein innerer Prozess ist, fehlen uns Sprache und Rituale, um sie öffentlich zu feiern. Es ist wie mit den Wurzeln eines Baumes: Wir bewundern die Krone, vergessen aber, was sie überhaupt ermöglicht, nämlich die Arbeit der Wurzeln.
Eine moderne Perspektive
Im modernen Coaching und in der Persönlichkeitsentwicklung wird Selbstführung zunehmend als Kernkompetenz anerkannt und nicht lediglich als Selbstverständlichkeit. So betonen Vordenker zunehmend Eigenschaften wie emotionale Regulierung, Selbstmotivation und Resilienz als wichtige Kennzeichen reifer Führung.
Selbstführung ist der stille Motor in uns; Führung ist das sichtbare Vehikel. Je stärker der Motor, je reibungsloser er läuft, desto nachhaltiger und müheloser gestaltet sich die Reise. Kurz gesagt: Wir können andere nur so tiefgreifend führen, wie wir uns selbst führen.
Fünf grundlegende, aber wirkungsvolle Aspekte für eine authentische (Selbst-)Führung:
1. Selbstbewusstsein:
Das Verständnis und die Anerkennung unserer Stärken, Schwächen, Emotionen und Werte ist der Grundstein für Authentizität. Ehrliche Selbstbetrachtung trägt dazu bei, dass unsere Entscheidungen und unser Verhalten mit unserem wahren Ich übereinstimmen.
2. Integrität:
Konsequentes Handeln nach unseren Grundprinzipien schafft Vertrauen – sowohl bei uns selbst als auch bei anderen. Wenn unsere Taten unseren Worten entsprechen, erschaffen wir uns den Ruf von Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit.
3. Verantwortlichkeit:
Die volle Verantwortung für unser Handeln, auch für Fehler, zu übernehmen, ist unerlässlich. Verantwortung zu übernehmen zeigt, dass wir uns für Wachstum, Lernen und Transparenz einsetzen.
4. Emotionale Intelligenz:
Das Erkennen und Beherrschen der eigenen Emotionen sowie die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, schaffen bedeutungsvolle Verbindungen. Dieses Bewusstsein fördert authentische Interaktionen und hilft uns, unseren Führungsstil an unterschiedliche Situationen anzupassen.
5. Verletzlichkeit:
Unsere Führung ist verständlich, wenn wir offen mit Unsicherheiten und Unvollkommenheiten umgehen. Das Akzeptieren der eigenen Verletzlichkeit ist förderlich für tiefere Beziehungen und für eine Kultur des Vertrauens und der kontinuierlichen Verbesserung.
All diese Aspekte zusammen helfen uns, authentisch zu führen und schaffen eine solide Grundlage für persönlichen und beruflichen Erfolg.
Fazit
Im Zentrum jeder inspirierenden Führungskraft steht die stille Kraft der Selbstführung. Es ist leicht, diejenigen zu feiern, die Teams führen und Organisationen transformieren, doch hinter jeder kühnen Entscheidung und jeder mutigen Vision steht eine Person, die sich zunächst selbst führt. Wir sagen vielleicht nicht oft: „Was für eine großartige Selbstführung!“, doch ist diese Haltung das, was authentische Führung ausmacht.
Je bewusster wir unsere Selbstführung kultivieren – durch Selbsterkenntnis, Integrität, Verantwortungsbewusstsein, emotionale Intelligenz und den Mut, verletzlich zu sein – desto authentischer und nachhaltiger wird unser Einfluss.
Sehen wir das also nicht als selbstverständlich an! Pflegen wir es täglich: Bleiben wir unseren Werten treu, setzen wir uns höhere Maßstäbe, erkennen und wertschätzen wir unsere Emotionen und trauen wir uns, unser wahres Ich zu zeigen! Denn wenn wir uns selbst mit Klarheit und Mut führen, inspirieren wir ganz natürlich und mühelos andere, mit uns aufzusteigen. Und in einer Welt, die sich nach immer mehr echter, menschenzentrierter Führung sehnt, beginnt wahrer Wandel genau dort: bei uns selbst.


